Genetische Faktoren und Wortschatzentwicklung: Ein Interview mit Dr. Ellen Verhoef

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Dr. Ellen Verhoef war eine Doktorandin am Max Planck Institut für Psycholinguistik. Am 5. März 2021 verteidigte sie ihre Doktorarbeit mit dem Titel „Why do we change how we speak? Multivariate genetic analyses of language and related traits across development and disorder” (Warum ändern wir die Art und Weise, wie wir sprechen? Multivariate Genanalysen der Sprache und der damit verbundenen Merkmale, von Entwicklung bis Störung.

Worin bestand die Hauptfragestellung Deiner Dissertation?

Mit meiner Doktorarbeit wollte ich unser Wissen über die genetischen Faktoren erweitern, die zu Unterschieden in der Sprachfähigkeit in den ersten paar Lebensjahren beitragen. Ich habe untersucht, ob ich diese genetischen Faktoren verknüpfen kann mit Sprache, Lese- und Schreibfähigkeit, und kognitiver Entwicklung. Außerdem habe ich die genetischen Übereinstimmungen dieser Merkmale mit neurologischen Entwicklungsstörungen wie Autismus und Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) untersucht.

Kannst Du mir den theoretischen Hintergrund etwas mehr erklären?

Wenn wir uns die Sprachentwicklung bei Kindern anschauen, unterscheiden wir häufig zwischen dem Sprechen und dem Verstehen von Sprache. Die Fähigkeiten, welche später mit der gesprochenen Sprache und dem Verstehen der Sprache in Verbindung gebracht werden, beginnen sich schon im Bauch der Mutter zu entwickeln und entwickeln sich schnell während der ersten Lebensjahre weiter. Babys verstehen normalerweise die ersten Wörter, wenn sie zwischen sechs und neun Monaten alt sind. Das erste gesprochene Wort kommt ein bisschen später, ungefähr um den ersten Geburtstag herum.

Es gibt große Unterschiede zwischen Kindern, was ihre Sprachentwicklung angeht. Manche Kinder verstehen oder sprechen mehr Wörter als andere in einem gewissen Alter. Wenn wir eine größere Gruppe Kinder untersuchen, dann sehen wir, dass die Anzahl an Wörtern, die ein Kind in einem gewissen Alter spricht, uns etwas darüber sagen kann, wie viele Wörter es später sprechen kann. Zum Beispiel tendiert ein Kind, welches relativ wenig Wörter im Alter von einem Jahr spricht, auch in einem späteren Alter dazu nur relative wenig Wörter zu sprechen. Die Anzahl an Wörtern, die ein Kind in einem sehr jungen Alter spricht, kann etwas über die Sprache, Lese- und Schreibfähigkeit und seine/ihre kognitiven Fähigkeiten im Kindes- und Jugendalter (7-13 Jahre) aussagen. Es ist jedoch wichtig anzumerken, dass diese Vorhersagen nur allgemeine Muster in Gruppen von Kindern, welche zur selben Zeit untersucht werden, darstellen. Diese Vorhersagen verschaffen uns nicht genug Genauigkeit um vorherzusagen, wie gut ein Kind die auf Basis der im Alter von zwei Jahren gesprochenen Wörter, später im Alter von neun Jahren lesen kann.

Kinder unterscheiden sich nicht nur in ihren Sprachfähigkeiten, sie unterscheiden sich auch in dem genetischen Code, der in ihren Zellen gespeichert ist (DNS). Diese können wir zum Beispiel in einer Blut- oder Speichelprobe sammeln. Unsere DNS besteht aus Millionen von Bausteinen und jeder Baustein, in dem sich Menschen voneinander unterscheiden, wird als DNS Variante bezeichnet. Einige DNS Varianten tauchen nur bei wenigen Menschen auf, andere wiederum treten häufiger auf. Wir definieren eine DNS Variante als häufig, wenn sie mit einer Frequenz von mindestens 1% in der Europäischen Bevölkerung vorkommt. Vorherige Studien haben gezeigt, dass alle häufigen DNS Varianten zusammen einen Teil der Unterschiede (13-14%) im Wortschatz von jungen Kindern erklären können. Wir wissen auch, dass das Verhältnis zwischen frühkindlicher Wortproduktion und den späteren Sprach- und Lesefähigkeiten zum Teil durch diese DNS Varianten erklärt werden können.

Warum ist eine Antwort auf diese Frage wichtig?
Es ist wichtig, mehr über die genetische Grundlage von Sprache zu wissen, angesichts dessen, dass Sprache so ein wichtiger Teil unseres Lebens ist. Die frühkindlichen Sprachfähigkeiten können teilweise spätere Sprach-, Lese- und kognitiven Fähigkeiten vorhersagen. Ein besseres Verständnis der Biologie hinter diesen Zusammenhängen ermöglicht eventuell irgendwann eine frühere Identifikation von Kindern, die später Gefahr laufen, Sprachrückstände zu entwickeln. Dies könnte die Grundlage für Interventionen im frühkindlichen Alter bilden, sodass Schwierigkeiten mit der Sprache einen kleineren Einfluss auf diese Kinder in ihrem späteren Leben haben.

Kannst Du uns etwas mehr über ein bestimmtes Projekt (Frage, Methode, Ergebnis) erzählen?

In einem Projekt habe ich erforscht, ob DNS Varianten, welche mit der Anzahl an Wörtern, die ein dreijähriges Kind spricht, auch einen Einfluss auf die Anzahl an Wörtern haben können, die dieses dreijährige Kind versteht. Außerdem habe ich untersucht, ob diese Varianten mit dreizehn weiteren Sprach- und Lesefähigkeiten zusammenhängen, welche zu verschiedenen Zeitpunkten im Kindes- und Jugendalter gemessen werden.

Für diese Studie habe ich eine fortgeschrittene statistische Analyse Technik verwendet, die eine gängige Methode verwendet, welche als “Strukturgleichungsmodellierung” mit genetischen Informationen von DNS Varianten genannt wird. Diese Technik ermöglicht es, genetische Beziehungen zwischen vielen verschiedenen Sprach- und Lesefähigkeiten in einer Analyse zu untersuchen. Mit anderen Techniken können wir nur zwei Fähigkeiten gleichzeitig testen. Jeder genetische Faktor der mit dieser Technik identifiziert wird, erfasst die Effekte vieler DNS Varianten zusammen.

Mit diesen Analysen haben wir entdeckt, dass genetische Faktoren, die mit der Anzahl an Wörtern zusammenhängen, die ein dreijähriger spricht und versteht, auch einen Einfluss auf die Sprach- und vor allem Lesefähigkeiten im Kindes- und Jugendalter haben. Interessanterweise wurden die größten Effekte bei einem genetischen Faktor gefunden, der für das Wortverständnis und nicht für die Wortproduktion verantwortlich ist. Diese Unterscheidung ist hier insofern wichtig, als dass nur wenige genetische Studien zum frühkindlichen Wortverständnis existieren. Um zu untersuchen, warum gerade das Wortverständnis so wichtig zu sein scheint, werden allerdings weitere Studien benötigt.

Was ist Deine wichtigste Erkenntnis?

Meine wichtigste Erkenntnis ist, dass DNS Varianten, welche einen Einfluss auf Unterschiede in der Wortschatzgröße in den ersten Lebensjahren haben, auch einen Einfluss auf Sprach- und Lesefähigkeiten im späteren Leben haben.

Welche Folgen hat diese Erkenntnis? Wie bringt sie die Wissenschaft oder die Gesellschaft voran?

Diese Ergebnisse legen nahe, dass genetische Informationen, welche die späteren Sprach- und Lesefähigkeiten beeinflussen, schon in einer Messung reflektiert werden können, die den Wortschatz im frühkindlichen Alter darstellt. Besonders die Rolle des frühkindlichen Wortverständnisses war noch nicht in der wissenschaftlichen Literatur bekannt. Wir werden zusätzliche Studien durchführen müssen, welche die genauen Gene und Mechanismen untersuchen, die an der Entwicklung dieser Beziehung beteiligt sind.

Was willst Du als nächstes tun?

Momentan habe ich eine Postdoktorandenstelle am MPI und ich werde weiter in dieser Forschungsrichtung an anderen Aspekten der frühkindlichen Entwicklung forschen, welche mit Sprache, motorischen und sozialen Fertigkeiten zusammenhängen. Zusätzlich würde ich gerne herausfinden, welche Gene beitragen zu Beziehungen zwischen Wortschatz, Sprach- und Lesefertigkeiten im Laufe des Lebens, um ein besseres Verständnis darüber zu erlangen, wie Gene die Entwicklung unseres Gehirns beeinflussen und damit letztendlich die Entwicklung unserer Sprache.

Link zur Doktorarbeit

Interviewerin: Julia Egger
Redacteurin: Merel Wolf
Niederländische Übersetzung: Lynn Eekhof
Deutsche Übersetzung: Bianca Thomsen
Eindredaktion: Eva Poort