Worin bestand die Hauptfragestellung Deiner Dissertation?
Menschen verfügen über viele sozial-kognitive Fähigkeiten, wie beispielsweise die Fähigkeit, sich in andere Menschen hineinzuversetzen und die Welt aus der Perspektive eines anderen zu sehen. In meiner Dissertation habe ich den Zusammenhang zwischen diesen Fähigkeiten und dem Lesen von Geschichten untersucht. Auf den ersten Blick scheinen diese beiden Dinge wenig miteinander zu tun zu haben. Schließlich sind sozial-kognitive Fähigkeiten die Fähigkeiten, die wir nutzen, um mit anderen zu interagieren. Lesen hingegen ist eine eher einsame Tätigkeit. Dennoch deuten einige Studien aus verschiedenen wissenschaftlichen Bereichen wie Literaturwissenschaft, Psychologie und Linguistik darauf hin, dass die Art und Weise, wie wir andere Menschen verstehen und mit ihnen umgehen, und die Art und Weise, wie wir Geschichten lesen, miteinander zusammenhängen. Meine Dissertation konzentrierte sich daher auf zwei Forschungsfragen: Wie beeinflusst das Lesen von Geschichten unsere sozial-kognitiven Fähigkeiten und umgekehrt, wie beeinflussen unsere sozial-kognitiven Fähigkeiten die Art und Weise, wie wir Geschichten lesen?
Kannst Du mir den theoretischen Hintergrund etwas mehr erklären?
Der Zusammenhang zwischen sozial-kognitiven Fähigkeiten und dem Lesen von Geschichten lässt sich am besten verstehen, wenn man Geschichten als soziale Simulationen betrachtet. Geschichten konzentrieren sich auf die Erfahrungen und Perspektiven von Menschen, nämlich den Figuren der Geschichte. In diesem Sinne sind Geschichten kleine Abbilder realer sozialer Erfahrungen. Um Geschichten zu verstehen, müssen wir also die sozialen Erfahrungen, die sie beschreiben, und die Figuren, die sie erleben, nachvollziehen können. Das bedeutet, dass wir unsere sozial-kognitiven Fähigkeiten nicht nur einsetzen, um Menschen zu verstehen, denen wir im Alltag begegnen, sondern dass wir uns auch auf sie verlassen, um eine Beziehung zu den Figuren aufzubauen, denen wir in den Geschichten begegnen, die wir lesen. Wenn das stimmt, dann trainieren wir vielleicht durch das Lesen vieler Geschichten unsere sozial-kognitiven Fähigkeiten, so wie ein Pilot seine Flugfähigkeiten durch das Training im Flugsimulator verbessert. Diese Idee führte mich zu meiner ersten Forschungsfrage: Wie wirkt sich das Lesen von Geschichten auf die sozial-kognitiven Fähigkeiten von Menschen aus?
Wir können auch das Gegenteil fragen: Wenn wir unsere sozial-kognitiven Fähigkeiten einsetzen müssen, um Figuren zu verstehen und Geschichten zu begreifen, dann muss doch sicherlich auch unsere Fähigkeit, andere Menschen im realen Leben zu verstehen, einen Einfluss darauf haben, wie wir uns auf Geschichten beziehen. Genau das habe ich im zweiten Teil meiner Dissertation untersucht.
Warum ist eine Antwort auf diese Frage wichtig?
Die Untersuchung, wie das Lesen von Geschichten unsere Fähigkeit, andere zu verstehen, stärkt, lehrt uns etwas über die evolutionären Grundlagen von Geschichten. Natürlich kann das Lesen von Geschichten viel Spaß machen, aber wenn wir untersuchen, wie Geschichten unsere sozial-kognitiven Fähigkeiten bereichern können, beginnen wir, Geschichten nicht nur als eine Form der Unterhaltung zu sehen, sondern als Werkzeuge, die sowohl das persönliche Leben als auch die Gesellschaft beeinflussen können.
Darüber hinaus zeigt der zweite Teil meiner Dissertation, dass Lesen nicht nur das Erkennen von Wörtern auf einer Seite ist – es umfasst viel mehr. Wenn wir eine Geschichte lesen, verbinden wir uns mit den Figuren, verstehen ihre Emotionen und können uns in ihre Perspektiven hineinversetzen. Das ist wichtig, weil es uns etwas darüber lehrt, wie Sprache mit anderen Prozessen wie Emotionen und sozialer Interaktion zusammenwirkt.
Können Sie uns etwas über ein bestimmtes Projekt erzählen?
Die zeitaufwändigste, aber auch lohnendste Studie, die ich durchgeführt habe, war eine Eye-Tracking-Studie für den zweiten Teil meiner Dissertation. Durch die Messung der Augenbewegungen wollte ich untersuchen, ob die sozial-kognitiven Fähigkeiten der Teilnehmer Einfluss darauf haben, wie sie eine Geschichte lesen. Insbesondere habe ich mich auf Wörter in der Geschichte konzentriert, die beschreiben, was die Figuren wahrnehmen (z. B. sehen, riechen), denken (z. B. Gedanke, Idee) und fühlen (z. B. Liebe, Wut). Die Teilnehmer kamen ins Labor und lasen eine 5000 Wörter lange Geschichte vor dem Eye-Tracker. Außerdem habe ich ihre sozialen kognitiven Fähigkeiten mit einer Reihe von Aufgaben gemessen Zum Beispiel bat ich sie, ihre Neigung zu bewerten, Dinge im Alltag aus der Perspektive anderer zu sehen. Als objektiveres Maß ließ ich die Teilnehmer auch an einem Spiel teilnehmen, bei dem sie mir so schnell wie möglich sagen mussten, wie viele Kreise auf einem Bild eines Raumes zu sehen waren, entweder aus ihrer eigenen Perspektive oder aus der Perspektive einer Person auf dem Bild. Manchen Menschen fällt es sehr schwer, in diesem Spiel ständig zwischen ihrer eigenen Perspektive und der Perspektive einer anderen Person zu wechseln, und sie werden dadurch langsamer, aber Menschen, die sehr gut darin sind, Perspektiven zu wechseln, sind dabei viel schneller.
Als ich das Leseverhalten meiner Teilnehmer untersuchte, stellte ich ein interessantes Muster fest. Die Personen, die angaben, im Alltag häufig Perspektiven zu wechseln und die in meinem Perspektivenwechsel-Spiel besonders gut abschnitten, verarbeiteten die Wörter in der Geschichte, die die Innenwelt der Figuren beschrieben, viel schneller Sie neigten beispielsweise weniger dazu, nach dem ersten Lesen auf diese Wörter zurückzukommen.
Diese Studie zeigt, dass sozial-kognitive Fähigkeiten eine wichtige Rolle beim Lesen von Geschichten spielen, insbesondere beim Verstehen der Perspektiven der Figuren.
Was hat dich zu deinem Forschungsthema inspiriert?
Als Linguistikstudentin liebte ich es, die kleinsten Bestandteile der Sprache zu untersuchen: Laute, Silben, Wörter, manchmal Sätze Aber nach ein paar Jahren hatte ich das Bedürfnis, einen Schritt zurückzutreten und mich statt mit den kleinsten Bausteinen mit den komplexen Kunstwerken zu beschäftigen, die wir mit ihnen schaffen können. So kam ich zu meinem Betreuer, Dr. Roel Willems, der gerade eine Forschungsgruppe gegründet hatte, die sich mit der Verarbeitung von Geschichten und Gedichten an der Radboud University befasst.
Was war der lohnendste oder unvergesslichste Moment während deiner Promotion?
2021 habe ich ein Stipendium (Christine Mohrmann Stipendium) gewonnen, das mir einen dreimonatigen Aufenthalt bei Prof. Dr. Raymond Mar an der York University in Toronto (Kanada) ermöglichte. Ich hatte gerade fast zwei Jahre lang aufgrund der Covid-Pandemie von zu Hause aus geforscht, was zeitweise eine ziemlich einsame und demotivierende Erfahrung war. Die Monate in Toronto waren eine wunderbare Möglichkeit, meine Motivation und Inspiration wieder zu wecken. Ich war eingebettet in eine tolle Gemeinschaft von Labormitgliedern und habe sogar neue Freunde gefunden. Außerdem konnte ich mit Professor Mar eine Studie durchführen, die schließlich Teil meiner Dissertation wurde.
Was willst Du als nächstes tun?
Das ist eine gute Frage. Ich bin mir noch nicht ganz sicher, wie es beruflich weitergehen soll. Idealerweise würde ich gerne für eine Organisation oder ein Unternehmen arbeiten, das Brücken zwischen Wissenschaft und Gesellschaft baut. Ich habe die Grundlagenforschung zum Thema Lesen sehr geliebt, aber jetzt, da ich weiß, wie wichtig und bereichernd Geschichten sind, möchte ich dieses Wissen in die Praxis umsetzen.