Jenseits des Sichtbaren: Wie sich die Technologie auf eine andere Art der Welterfahrung einstellen kann in Blindheit

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Stellen Sie sich vor, Sie müssten sich auf einer belebten Straße zurechtfinden, ein Essen bestellen oder ein Medikamentenetikett lesen, ohne zu sehen. Für fast 300 Millionen blinde oder sehbehinderte Menschen weltweit gehören diese Herausforderungen zum Alltag. Doch dank der Fortschritte in barrierefreien Technologien sind solche Aufgaben immer leichter zu bewältigen. Welche Hilfsmittel sind derzeit verfügbar? Erfüllen sie wirklich die Bedürfnisse der Gemeinschaften, denen sie dienen sollen? Und wie könnten wir für die Zukunft intuitivere Alternativen entwickeln?

Warum Sprache wichtig ist

Doch bevor wir uns mit der Technik befassen, sollten wir uns einem ebenso wichtigen Thema widmen: integrativer Sprache. Die Art und Weise, wie wir über Blindheit sprechen, bestimmt, wie wir über sie denken, und wie wir sie gestalten. Viele blinde Menschen definieren sich nicht über das, was ihnen fehlt. Deshalb können Begriffe wie sehbehindert, sehbeeinträchtigt oder sehschwach problematisch sein. Sie betonen, was „fehlt“, anstatt anzuerkennen, dass Blindheit eine andere Art und Weise ist, die Welt zu erleben. Manche dachten früher, das Wort blind sei zu unverblümt, aber es drückt lediglich eine Tatsache aus, ohne negativen Beigeschmack. Ausdrücke wie „blinde Person“ oder „Person, die blind ist“ stellen die Person in den Mittelpunkt, nicht die Behinderung.

Tools, die den Weg geebnet haben

Die Menschheit hat seit Tausenden von Jahren Hilfsmittel zur Unterstützung blinder Menschen entwickelt. Didymus der Blinde zum Beispiel, ein religiöser Gelehrter aus Alexandria aus dem 4. Jahrhundert, wird oft mit einem Gehstock abgebildet, eines der ältesten Hilfsmittel, das blinden Menschen die eigenständige Fortbewegung erleichtert. Heute führen weiße Blindenstöcke blinde Menschen durch ihre Umgebung, oft in Kombination mit taktilen Pflastern, gelben, strukturierten Wegen, die in Bahnhöfen oder auf Gehwegen verwendet werden. Akustische Signale an Fußgängerüberwegen, die durch Tasten aktiviert werden, zeigen blinden Passanten an, wann es sicher ist, die Straße zu überqueren.

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Auch taktile Formen des Lesens reichen Tausende von Jahren zurück. Didymus benutzte Berichten zufolge geschnitzte Holzbuchstaben, um lesen und schreiben zu lernen, ein früher Vorläufer der Brailleschrift. Im Jahr 1824 entwickelte Louis Braille das moderne Braille-System, bei dem bis zu sechs gewölbte Punkte in einer Zelle angeordnet sind, um Buchstaben, Zahlen, Satzzeichen und sogar musikalische oder mathematische Notationen darzustellen. Sein System wurde von einem früheren 12-Punkte-Code von Charles Barbier übernommen und ist heute der universelle Standard für taktiles Lesen und Schreiben. In der Praxis ist das Lesen der Brailleschrift in der Regel etwas langsamer als das Lesen der Druckschrift, aber unerlässlich für die Zugänglichkeit in öffentlichen Räumen, wie z. B. in Museen. In den letzten Jahren hat der Gebrauch der Brailleschrift zunehmend abgenommen, da sich Audiotechnologien (z.B. Bildschirmlesegeräte, Smartphones und Hörbücher) weiter verbreitetet haben. Viele Smartphones unterstützen inzwischen das Braille-Alphabet für das Verfassen von Textnachrichten und tragen so dazu bei, die taktile Lesefähigkeit in einem digitalen Format zu erhalten.

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Diese Hilfsmittel sind wichtig, aber nicht immer ausreichend. Viele moderne Haushaltsgeräte haben nur Touchscreen-Bedienelemente ohne Braille- oder Audiounterstützung. Produktetiketten, z. B. auf Shampoos oder Reinigungsmitteln, enthalten oft keine zugänglichen Informationen. Und obwohl für Menüs in Restaurants immer häufiger QR-Codes verwendet werden, sind sie noch lange nicht der Standard.

Neue Entwicklungen: KI-Apps und intelligente Blindenstöcke

Zum Glück bieten neuere Innovationen mehr Möglichkeiten. Viele KI-gestützte Apps beschreiben die Umgebung mit Hilfe einer Smartphone-Kamera. Einige verbinden Nutzer mit sehenden Freiwilligen, die ihnen in Echtzeit helfen. Andere nutzen KI, um Objekte zu erkennen, Texte zu lesen oder Gesichter zu beschreiben. Allerdings ist die KI derzeit nicht immer in der Lage, das Richtige zu tun. Sich auf eine Smartphone-App oder eine Internetverbindung zu verlassen, funktioniert in der Krise nicht immer. Was passiert, wenn Ihr Telefon ausfällt oder Sie sich in einem Gebiet befinden, in dem es keinen Empfang gibt? Die Unterstützung durch sehende Freiwillige ist oft zuverlässiger als die KI, aber nicht immer verfügbar, und die Kosten für professionelle Hilfe summieren sich schnell.

Darüber hinaus werden derzeit intelligente Blindenstöcke weiterentwickelt. Diese Hilfsmittel verfügen heute über Hindernissensoren, GPS, Internetzugang und integrierte Sprachassistenten. Die Nutzer können sich über öffentliche Verkehrsmittel informieren lassen, Schritt-für-Schritt-Anweisungen erhalten und sich in komplexen Umgebungen zurechtfinden, nur mit dem Stock. Allerdings können diese Hilfsmittel auch teuer sein. Für die Barrierefreiheit ist es wichtig, die Kosten für Technologie und Unterstützung niedrig zu halten.

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Blindengerechtes Design

Blinde Menschen erleben die Welt grundlegend anders. Sie navigieren anders im Raum als Sehende, und sie sprechen auch anders über den Raum als Sehende (Mamus et al., 2023). Sie unterteilen Routen in kleinere, überschaubare Teile und verlassen sich auf Orientierungspunkte statt auf eine kartenähnliche Perspektive. Außerdem verwenden sie eine egozentrische Perspektive, was bedeutet, dass sie die Welt auf der Grundlage ihres eigenen Körpers und ihrer Bewegungen verstehen. Dies hat Auswirkungen darauf, wie wir Navigationshilfen gestalten.

Die meisten aktuellen Apps geben beispielsweise Wegbeschreibungen wie „Gehen Sie geradeaus, bis Sie den Kreisverkehr erreichen“ und gehen dabei von visuellen Orientierungspunkten aus. Blinde Nutzer profitieren jedoch mehr von Anweisungen wie:
„Gehen Sie zehn Schritte vorwärts, bis Sie eine laute Kreuzung erreichen. Biegen Sie dann nach rechts ab, in Richtung 2 Uhr, mit der hohen Hecke zu Ihrer Linken“. Um blinden Nutzern wirklich zu helfen, müssen sich die Navigationsanwendungen an diese andere Art der Raumerfahrung anpassen. Konkret bedeutet dies intuitivere, körperzentrierte Beschreibungen zu verwenden.

Die heutigen Technologien sind sehr vielversprechend, aber die Zukunft der Barrierefreiheit besteht nicht nur aus neuen Geräten. Es geht darum, das Design aus der Perspektive derer zu entwickeln, die es nutzen. Das erfordert bessere Forschung, integrativere Designteams und die Bereitschaft, den Menschen zuzuhören, für die wir gestalten. Es geht darum, eine Welt zu schaffen, die für alle besser funktioniert, unabhängig davon, wie wir sie wahrnehmen.

Autorin: Ezgi Mamus

Herausgeber: Jitse Amelink

Übersetzung Deutsch: Milo Reinmöller

Photo credit featured image: WeWalk


Referenzen

Bashin, B. (2024). Be My Eyes “Inclusive Language” Guide. https://www.bemyeyes.com/blog/be-my-eyes-inclusive-language-guide/

Mamus, E., Speed, L. J., Rissman, L., Majid, A., & Özyürek, A. (2023). Lack of visual experience affects multimodal language production: Evidence from congenitally blind and sighted people. Cognitive Science, 47(1), e13228.

Thomas, C. (2004). How is disability understood? An examination of sociological approaches. Disability & society, 19(6), 569-583.

Wetzel, R., & Knowlton, M. (2000). A comparison of print and braille reading rates on three reading tasks. Journal of Visual Impairment & Blindness, 94(3), 146–154.