Es gibt kein Gen für Sprache

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Wir sind in vielerlei Hinsicht komplex, doch trotzdem denken Menschen oft einfach über Genetik: „ein Gen, ein Merkmal“. Aber die Realität ist komplizierter. In diesem Blog werden wir gängige Missverständnisse über Genetik durchgehen, erklären, warum sie falsch sind, und beschreiben, was Wissenschaftler heute über Biologie denken.

Zurück zu Mendel

„Was ist das Gen für Sprache?“ Es ist eine Frage, die Genetikern oft gestellt wird. Ein großes Missverständnis über Genetik ist, dass es für jedes Merkmal ein einzelnes kausales Gen gibt. Es vereinfacht die Beziehung zwischen Merkmalen und Genetik auf ein Gen, ein Merkmal. Dieses Missverständnis rührt von der Art, in der wir in der Schule zum ersten Mal in die Genetik eingeführt werden, wo wir von Gregor Mendel und seinen Experimenten lernen. Lassen Sie uns einen Blick darauf werfen, warum dies zu Missverständnissen darüber führt, wie Eigenschaften vererbt werden.

Wir müssen bis ins 19. Jahrhundert zurückgehen und Ihnen Mendel vorstellen – einen Mönch und Biologen, der mehrere Experimente mit Erbsen durchführte und die grundlegenden Prinzipien der Genetik festlegte, lange bevor Wissenschaftler wussten, dass Gene überhaupt existieren.

Mendels Experimente bestanden darin, verschiedene Arten von Erbsen zu züchten (sehen Sie sich dieses Video zur Auffrischung an). Zum Beispiel kreuzte er in einem seiner Experimente gelbe Erbsen mit grünen Erbsen. Die erste Generation der gekreuzten Erbsen war immer gelb, aber in der zweiten Generation betrug das Verhältnis 3 gelbe Erbsen zu 1 grüner Erbse. Daher schloss er, dass Merkmale (hier die Samenfarbe) von „Faktoren“ (genetischen Varianten) kontrolliert werden, die von einer Generation zur nächsten übertragen werden. Und dass eine der genetischen Varianten „dominant“ über die andere ist, sodass die Erbse, wenn sie die gelb gefärbte genetische Variante (d.h. die dominante) hat, immer das Merkmal entwickelt.

Ein Gen, ein Merkmal

Mendels Experimente waren für einige besondere Fälle in der Genetik richtig: monogene Merkmale. Bei einem monogenen Merkmal verändert eine genetische Variante in einem Gen seine Funktion und dies verursacht das Merkmal. Wenn das Merkmal dominant ist, zeigt es sich, wenn schon nur eine Kopie des Gens die Variante hat. Wenn das Merkmal rezessiv ist, zeigt sich das Merkmal, wenn beide Kopien des Gens die Variante haben. Sie können Beispiele für diese Muster unter folgendem Link einsehen: https://medlineplus.gov/genetics/understanding/inheritance/inheritancepatterns/

Ein Beispiel für eine dominante monogene Störung ist die Verbale Entwicklungsdyspraxie. Kinder mit dieser sehr seltenen Erkrankung haben Schwierigkeiten, die Sequenzen von Mund- und Gesichtbewegungen auszuführen, die wir zur Artikulation von Sprache verwenden. Ihre Sprache kann für die Menschen um sie herum sehr schwer verständlich sein. Im Jahr 2001 untersuchten Forscher eine große Familie, in der mehrere Mitglieder diese Sprachstörung hatten, und stellten fest, dass sie alle eine Variante im FOXP2-Gen hatten. FOXP2 war das erste Gen, das mit Sprache und Sprechen in Verbindung gebracht wurde: ein bedeutender wissenschaftlicher Durchbruch.

Aber hier ist die Wendung: Kürzlich entdeckten Wissenschaftler bis zu 30 weitere Gene, die mit verbaler Entwicklungsdyspraxie in Verbindung stehen. Wenn ein Kind eine Krankheitsvariante in einem dieser 30 Gene trägt, wird das wahrscheinlich zu Sprachproblemen führen. Daher ist die verbale Entwicklungsdyspraxie eine monogene Erkrankung, da Menschen, die eine kausale Variante tragen, die Sprachstörung entwickeln. Aber bei verschiedenen Menschen können unterschiedliche Gene dieselbe monogene Erkrankung verursachen.

Wir sind komplex, und so ist auch unsere DNA.

Die meisten Merkmale sind nicht monogen und werden eher durch mehr als eine genetische Veränderung verursacht, die zusammen in Kombination wirken. Diese werden häufig als polygenetische, komplexe oder multifaktorielle Merkmale bezeichnet. Hier erklären die kombinierten Effekte genetischer Varianten in mehreren Genen und deren Wechselwirkung mit der Umwelt die Neigung einer Person, dieses Merkmal zu entwickeln. Viele kleine genetische Effekte summieren sich und man kann ein bisschen mehr oder ein bisschen weniger haben, anstatt alles-oder-nichts wie bei einer monogenen Erkrankung.

Ein Beispiel für ein polygenes Merkmal ist Legasthenie, einem Merkmal, bei dem Menschen unerwartete Schwierigkeiten beim Lesen und/oder Schreiben lernen haben, trotz ausreichender Gelegenheit und Bildung. Eine im Jahr 2022 veröffentlichte Studie (die mehr als eine Million Menschen analysierte) identifizierte 42 separate Positionen in unserer DNA, die mit der Veranlagung zu Legasthenie in Verbindung stehen, wobei jede einzelne die Wahrscheinlichkeit, legasthenisch zu sein, nur um einen sehr kleinen Betrag erhöht. Andere Merkmale, die uns in der Schule beigebracht werden und angeblich einem einfachen Vererbungsmuster folgen, in Wirklichkeit aber polygen sind, sind Augenfarbe, Haarfarbe, ob man Grübchen hat, ob man angenähte Ohrläppchen hat, ob man die Zunge rollen kann, ob man Linkshänder ist und viele mehr.

Jenseits der Gene

Wenn die meisten Menschen an Genetik denken, denken sie an „die Gene“. Und wenn die Menschen an eine genetische Ursache denken, denken sie an eine Mutation (d.h. eine Veränderung in der DNA), die in einem „Gen“ liegt. Aber das ist nicht immer der Fall. Wir haben etwa 20.000 Gene in unserer DNA; jedoch machen sie nur 2 Prozent unseres gesamten DNA-Codes aus! Was ist mit den anderen 98 Prozent?

Eine Zeit lang dachten Wissenschaftler, die seien „Müll“, nicht genutzt. Genetiker nennen es „nicht-kodierende DNA“, und wir wissen jetzt, dass sie für das korrekte Funktionieren unserer Zellen unerlässlich ist, indem sie ihnen ein Handbuch dafür liefert, wie und wann die Gene ein- und ausgeschaltet werden müssen.

Interessanterweise befinden sich die meisten genetischen Varianten, die mit polygenen Merkmalen assoziiert sind, in dieser nicht-kodierenden DNA. Wie Sie sich vorstellen können, ist es also normalerweise nicht so einfach zu erkennen, welches Gen durch eine Veränderung in der DNA betroffen ist und wie sich dies letztendlich auf ein Merkmal auswirkt.

Wir sind komplex, und so ist auch unsere DNA.

 

Autorin: Lucia de Hoyos

Redaktion: Jitse Amelink, Else Eising

Übersetzung Niederländisch:

Übersetzung Deutsch: Carmen Ramoser

 

Literaturempfehlungen

  • “Understanding Genetics.” MedlinePlus, medlineplus.gov/genetics/understanding. Accessed 27 May 2024.
  • Zimmer, Carl. “Seven Big Misconceptions About Heredity.” Medium, 23 May 2019, carlzimmer.medium.com/seven-big-misconceptions-about-heredity-42c94ba80365. Accessed 27 May 2024.
  • Rutherford, Adam. “Rethink Everything We Know About Genes and Identity Politics.” TEDx Glasgow, 2018, https://www.youtube.com/watch?v=f55-ltaieV0&t=9s. Accessed 27 May 2024.